Leseprobe Sanddorninsel

»Ach Mensch, wir sind bisher so gut durchgekommen.« Heike seufzte und hatte sofort wieder eine schuldbewusste Miene. Als ob sie etwas dafürkönnte, dass sich der Verkehr auf dem Übergang zur Rügenbrücke staute. Damit musste man in der Hochsaison rechnen. Von der Rückbank kam ein Stöhnen. Rahel, natürlich. Emily, die jüngste von ihnen, hatte wahrscheinlich noch nicht einmal wahrgenommen, dass sie nicht mehr fuhren. Sie schottete sich ab mit ihren großen Kopfhörern auf den Ohren und dem Mobiltelefon, ihrem Schatz, den sie nur selten aus den Augen ließ. Ursula musste über ihre Urenkelin schmunzeln. Sie hatte wirklich gerade eine schwierige Phase. Die hübschen hellblauen Augen umrandete sie mit dicken schwarzen Strichen, in ihrer niedlichen Stupsnase und im Bauchnabel, den sie gern präsentierte, steckten Metallringe. Das hätte Ursula ihr niemals erlaubt, für Rahel war es wohl eine gute Gelegenheit, ihren permanenten Zeitmangel auszugleichen. Emily malte sich ihre Finger- und Fußnägel blau oder neongelb an, ihre Kleidung war eigentlich immer schwarz, und die Jeans hatten Löcher.
»O Mann, Ur-Usch«, hatte sie mal gesagt und mit den Augen gerollt, »das gehört so!«
Die Kleine war in einer Trotzphase, daran gab es keinen Zweifel. Aber musste ihre Mutter sie deshalb manchmal Enemy nennen, Feind? Irgendwie gut, fand Ursula, dass sie nicht so angepasst war. Ein bisschen mehr Rebellion hätte ihrem eigenen Leben auch gutgetan. Und dem ihrer Tochter Heike sowieso, die war eindeutig zu brav und mausgrau.
»Ich werde noch in hundert Jahren nicht verstehen, warum wir unbedingt mit deinem ollen Passat Kombi aus Bad Bevensen starten mussten.« Das betonte Rahel nicht zum ersten Mal an diesem Tag.
»Meinst du, mit deinem flotten BMW wären wir im Stau schneller gewesen?« Ursula drehte sich zu ihr um. Rahel hatte mit ihrer Tochter mehr gemeinsam, als sie sich vermutlich eingestehen würde. Auch sie war blass, ihr Gesicht schmal. Auch sie betonte ihre Augen sehr auffällig, wenngleich eleganter. Ihre Lippen hatten die Farbe von Klatschmohn, der Nagellack passte exakt dazu. Wie schaffte sie es nur, die Farben entsprechend den Anlässen oder vielleicht auch ihrer jeweiligen Stimmung zu wechseln? Und zwar auch die des Lackes! Ursula wäre ihre Zeit dafür zu schade. Vielleicht auch deshalb, weil sie nicht mehr so viel davon hatte wie die anderen in diesem Auto. Jedenfalls, wenn die Natur sich nicht noch mit einer von ihnen einen bösen Witz erlaubte.
Rahel ging nicht auf Ursulas Einwand ein. »Wenn Emily und ich in einem Rutsch gefahren wären, hätten wir uns die Übernachtung in Bad Bevensen sparen können und würden schon am Strand liegen. Oder so.« Wie sie Bad Bevensen betonte. Als wäre es unter ihrer Würde, den Namen einer Ortschaft mit weniger als einer Million Einwohnern überhaupt in den Mund zu nehmen. Dass es immerhin ihr Geburtsort war, hatte sie anscheinend vergessen. Heike hatte sich damals für eine Hausgeburt entschieden, weshalb Bad Bevensen nun eben in Rahels Pass eingetragen war.
»Wir haben Urlaub, Kind, das heißt, wir haben Zeit. Es spielt doch keine Rolle, ob wir eine halbe Stunde eher oder später da sind.« Nach Urlaub sah Rahel keinesfalls aus in ihrem silbergrauen Bleistiftrock und passendem Blazer über der weißen Bluse. Wenigstens hatte sie den ausgezogen. War sonst ja nicht auszuhalten in dem stickigen Auto. »Du weißt bestimmt schon gar nicht mehr, wie Freizeit sich anfühlt, was? Immer nur Arbeit, das ist doch nichts.« Rahel holte hörbar Luft. »Ich freue mich deshalb umso mehr, dass du dir die Tage freigenommen hast, um mit uns nach Rügen zu fahren.« Ursula drehte sich noch einmal kurz nach hinten um und strahlte ihre Enkelin an. Die sichere Methode, Rahel wehrlos zu machen.
»Frei …«, sagte Rahel leise. Es klang wie ein Stöhnen. Kein Wunder, seit Stunden tippte sie auf ihrem Computerdings herum, und ständig schaute sie auf ihre Uhr. Es würde ihr wirklich guttun, mal ein bisschen abzuschalten.

Von der Straße ging es über einen Kiesweg und dann auf die Auffahrt eines alten Hauses im berühmten Stil der Bäderarchitektur. Weiße verschnörkelte Balkone, Säulen. Hier hatte jemand mit viel Liebe und wohl auch nicht wenig Geld ein betagtes Gebäude renoviert und modernisiert. Sehr schön. Ein Stück vom Eingang entfernt stand ein großes Schild:

Villa Sanddorn
Auszeit mit Einsicht – Coaching, Supervision
und Familienaufstellung in den Ferien

Rahel, den Hartschalenkoffer hinter sich herziehend, die Aktentasche unter dem Arm, entdeckte es zuerst.
»Oma Usch, sag bitte, dass das nicht wahr ist!«
Emily kam näher, um zu sehen, worüber ihre Mutter sich schon wieder aufregte. »O nee, ey, auf so’n Psychokram hab ich auch keinen Bock.«
Heike hatte am Auto ein paar Dehnübungen gemacht, jetzt kam sie mit ihrer alten Reisetasche angeschleppt. »Was gibt’s denn Schönes?«
»Nichts Schönes, Mutter, sondern eine Falle.«
Ursula lachte schallend. »Also wirklich, liebe Rahel, du übertreibst. Ich wünsche mir von euch einen gemeinsamen Termin bei dieser Frau Marold zum Geburtstag. Ich zahle ihn sogar selber.« Ursula sah die drei der Reihe nach an. »Wir haben es nötig, meint ihr nicht? Es ist ja fast ein Wunder, dass wir vier alle lebend hier angekommen sind und sich niemand an die Kehle gegangen ist.«
»Was is’n Familienaufstellung?« Emily legte den Kopf schief.
»Das ist eine Therapie für Leute mit total gestörten Beziehungen, bei der andere Leute oder auch irgendwelche Figuren im Raum aufgestellt werden. Durch die Entfernungen zueinander, die Blickrichtungen und was weiß ich noch durchschaut der Therapeut dann im Handumdrehen«, sie schnippte, »wo die Probleme liegen und wie man sie lösen kann.« Ihre Wangenknochen waren angespannt. »Jedenfalls, wenn man dran glaubt.«
»Deshalb wolltest du unbedingt nach Rügen fahren, Mutti?« Heike sah sie betrübt an und schnaufte. »Es wäre wirklich nett gewesen, wenn du vorher mit uns darüber gesprochen hättest.«
»So, jetzt reicht’s!« Rahels Wangen waren beinahe so rot wie ihr Lippenstift. Explosion voraus! »So leid es mir tut, Oma Usch, aber ich lasse mich nicht verar… verschaukeln. Für mich ist so ein Theater nichts. Und darum fahre ich jetzt sofort wieder ab.« Sie betonte jede einzelne Silbe.
»Ach ja, und womit?« Heike triumphierte.
»Mit einem Leihwagen. Den habe ich schneller vor der Nase stehen, als du dir vorstellen kannst. Und ich meine nicht, dass ich nach Hause fahre, sondern ich suche mir ein nettes Hotel, und wir treffen uns dann ab und zu. Nachdem eure Psycho-Räucherstäbchen-Bastmatten-Sitzungen beendet sind.«
»Ich bleib hier«, verkündete Emily.
»Ihr werdet alle hierbleiben!« Ursula war selbst ein bisschen von ihrem Ton überrascht. Den Gesichtern nach zu urteilen, hatte er die Wirkung, die sie sich wünschte. »Ich schlage vor, wir gehen erst mal hinein und sehen uns die Wohnung an, die ich für uns gebucht habe. Ihr habt mich hundertmal gefragt, was ich mir zum Geburtstag wünsche. Nun wisst ihr es. Geschenke müssen übrigens nicht zwangsläufig dem Schenkenden gefallen. Ein einziger Termin«, wiederholte sie. »Davon abgesehen ist das hier eine ganz normale Ferienunterkunft.« Sie hatte nicht übel Lust, die drei einfach stehen zu lassen, doch da entdeckte sie eine Frau, die gerade über den Hof auf sie zukam. Ursula beschirmte ihre Augen mit der Hand.
»Gottchen, was kommt wohl noch alles auf uns zu?«, flüsterte Rahel.
»Das erfahrt ihr noch früh genug«, antwortete Ursula. Sie freute sich diebisch über die verunsicherten Mienen.

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