Gestrichen

Dieses Kapitel aus Die Frauen vom Jungfernstieg Band 3 – Irmas Geheimnis ist dem Rotstift zum Opfer gefallen. Es fehlte einfach der Platz, und der Text hätte die Geschichte nicht vorangebracht. Mir hat er trotzdem gefallen 😉

Irma konnte es einfach nicht fassen, schon seit einem Jahr tobte nun der Krieg, der die gesamte Welt zu verschlingen drohte. Anfangs hatte sie vor allem damit gehadert, dass sich eine solch grandiose Dummheit nicht hatte verhindern lassen. Ihr Kopf hatte sich geweigert, das zu verstehen. Wenn keine Regierung Krieg wollte, hatte man einen gemeinsamen Nenner, sei er noch so klein. Dann musste man einen Weg finden, jede Krise ohne Waffengewalt zu lösen. Dummerweise hatte sie lernen müssen, dass es diesen einen Nenner nicht gab, und das machte alles noch schlimmer.

Zu viele Gruppierungen und einzelne Politiker haben Interesse an der gewaltsamen Auseinandersetzung“, hatte Eckart ihr erklärt. Was waren das für Menschen, die Interesse am Tod, am Hunger und dem Leid anderer hatten? Am Anfang hatte Irma sich geweigert, irgendeine Antwort auf diese Frage zuzulassen. Schließlich war ihr nichts anderes übrig geblieben, als den Tatsachen ins Auge zu sehen.

Wir werden es überstehen“, hatte sie zu Eckart gesagt, „und wenn alles vorüber ist, wirst du Bürgermeister. Du wirst jeden Senator, Referenten, wen auch immer, darauf einschwören, sich in erster Linie für Frieden einzusetzen. Das musst du mir versprechen.“

Die Kämpfe fanden nicht in Hamburg statt, nicht vor ihrer Haustür, dennoch waren die Spuren des Krieges auch in der Hansestadt nicht zu übersehen. Ein militärisches Generalkommando bezog an der Palmaille in Altona Stellung und übernahm teilweise die Aufgaben der Stadtverwaltung. Das Kommando hatte General der Artillerie Maximilian von Roehl inne.

Dass sich ein General um den Nachschub für die Armee zu kümmern hat, kann ich einsehen“, hatte Irma geschimpft. „Dafür muss er doch nicht gleich die zivile Verwaltung ersetzen.“

Wir befinden uns im Ausnahmezustand“, war Eckarts Antwort gewesen. Gelassen ausgesprochen, doch seine Wangenknochen hatten seinen Gemütszustand verraten. „Das Militär will die Kontrolle über alle wichtigen Bereiche des öffentlichen Lebens in seiner Hand halten. Sie wollen bestimmen, ob Versammlungen stattfinden dürfen, sie haben die Hoheit über die Presse, um unliebsame Nachrichten zu unterschlagen oder ihre Propaganda zu platzieren.“

Was bleibt dann noch für euch? Soll der Hamburger Senat doch gleich nach Hause gehen und warten, bis dieser Alptraum vorüber ist.“

Das Tagesgeschäft der Verwaltung müssen wir schon noch erledigen, ebenso die Lebensmittelversorgung.“ Er hatte tief geseufzt. „Noch. Wenn Nahrungsmittel knapp werden, wird das Militär auch darüber das Sagen haben wollen.“

Die plötzliche Umbenennung traditionsreicher Lokale, war ein weiteres sichtbares Zeichen, dass die Welt auch in Hamburg aus den Fugen war. Das Restaurant Old Commercial Room direkt am Michel zum Beispiel. Es wurde ein deutsch-patriotischer Name dafür gefordert, vom Alten Handelsraum war die Rede, was zu albernen Missverständnissen führte.

Hatte Irma anfangs noch geglaubt, sie könne sich den Krieg vom Leib halten, kroch er doch auf allen Vieren näher, robbte sich durch Blut und Schlamm an sie heran und färbte ihre Welt in Grau- und Rosttöne. Seltsamerweise hatte Irma kaum Angst um ihr Leben, vielleicht war das Grauen dafür zu abstrakt. Sie spürte nur eine ständige Niedergeschlagenheit, die sie dann doch das Fürchten lehrte, weil sie so ganz anders war als ihr finsterer Begleiter von einst. Dieses Mal gab es niemanden, der sie auf andere Gedanken oder zur Vernunft bringen konnte. Alle Menschen, ob die tatkräftige Toni oder der unerschütterliche Oscar Troplowitz, schlichen wie unter der Knute eines grausamen Herrschers durch ihren Alltag, dass es einem das Herz zerriss. Fast alle. Ole begriff das Leben noch immer als großes Abenteuer. Um ihn zu schützen, war Irma mit ihm nach Ausbruch des Krieges immer weniger raus und stattdessen möglichst oft in ihr Atelier gegangen. Sonst hatte sie ihm meist ein Motiv vorgegeben, oder sie hatte ihm Ratschläge gegeben, wie er ein Bild aufbauen sollte, welche Farben zueinander passten oder gerade das Gegenteil, welche einen spannungsvollen Kontrast bildeten. Jetzt ließ sie ihn machen und sah staunend zu, mit welcher Hingabe er Kompositionen schuf, die ihr schier den Atem raubten. Er war jetzt neun Jahre alt und verlangte, regelmäßig das Atelier nutzen zu dürfen. Mit dem selbstbewussten Blick seines Vaters versank er in Farben und Formen wie seine Mutter und brachte Werke zustande, die Galerist Hellmann als Arbeit eines Genies bezeichnete. Ole sorgte für die leuchtend-bunten Momente in der düsteren Zeit. Doch auch ihn umgarnte das Monster Krieg. In der Schule wurde ein eiserner Michel aufgestellt. Überall hatten die Dinger einen anderen Namen, eiserner Hinnerk, Fiete oder eben Michel. Ihr Zweck war immer der selbe: Gegen eine Spende durfte man einen Nagel in eine Holzfigur einschlagen. Das so eingenommene Geld kam Soldaten zugute, die verletzt aus der Schlacht zurückkehrten oder Hinterbliebenen von Soldaten, die nie mehr zurückkehren würden. Ole war mit Feuereifer dabei. Es machte ihm Freude, mit möglichst wenigen gezielten Hammerschlägen den Nagel in das Holz zu treiben. Dass man ihn dafür lobte und ihm erklärte, wie sehr er damit dem deutschen Volke und seiner Moral Gutes täte, erfüllte ihn mit kindlichem Stolz.

Als Irma doch mal mit ihm draußen unterwegs war, weil ihr Sohn schließlich auch Bewegung und frische Luft brauchte, gerieten sie auf dem Rathausmarkt in eine in ihren Augen absurde Veranstaltung. Gegnerische Geschütze, die die kaiserlichen Truppen erbeutet hatten, wurden zur Schau gestellt wie Schätze. Ole betrachtete sie mit strahlenden Augen. Er sagte kaum ein Wort, doch am nächsten Tag bat er, zum Reinckeplatz gehen zu dürfen.

Was gibt es denn da zu sehen?“, wollte Irma wissen.

In der Schule sagen sie, am Reinckeplatz sind echte Schützengräben. Sie sehen wenigstens aus wie echt, auch wenn sie natürlich nur nachgebaut sind“, erklärte er eifrig. „Da kann man Soldat spielen und richtig kämpfen wie an der Front!“ Seine Wangen leuchteten. „Es kostet auch nicht viel, und das Eintrittsgeld bekommen die Familien der Toten.“

Irma war so entsetzt, dass sie ihm die Bitte zunächst ausschlug. Sie sprach lange mit Eckart darüber und erfüllte ihrem Sohn schließlich den Wunsch. Nachdem er atemlos die Männer mit ihren Gewehren beobachtet hatte, wie sie in den Gräben in Deckung gingen und sich hinter Stacheldraht verschanzten, fuhr Irma mit ihm zum Bahnhof Altona. Nur wenig Licht drang in den Wartesaal der dritten und vierten Klasse. An langen Tafeln saßen dicht an dicht unzählige Menschen. Alte und Kinder, alle mit dem gleichen leeren Blick. Es roch muffig, nach gekochten Kartoffeln, Schweiß und feuchter Wolle. Man hörte das Kratzen von Löffeln in Blechschalen, leises Husten, hier und da ein Schluchzen.

Wer sind diese Leute, Mami?“

Das sind Flüchtlinge, Ole. Menschen, die alles verloren haben, ihr zu Hause, ihre Spielsachen.“

Er blickte stumm die Reihen der Jammergestalten entlang. Irma spürte, wie der Druck seiner kleinen Hand stärker wurde.

Der Krieg ist kein Abenteuer, Ole“, sagte sie heiser. „Das ist er niemals. Das hier ist der Krieg.“ Er nickte.

Sie händigte einer Schwester vom Roten Kreuz, die sich um die armen Geschöpfe kümmerte, einen Umschlag aus, darin hundert Mark. Irma kaufte sich frei, um diesen dunklen Ort schnell wieder verlassen zu können.

 

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